Sehr geehrte Damen und Herren,
 
die Ausstellung „Nah und Fern" von Rudolf Draheim gibt einen Einblick in das Werk des Malers, einen Einblick - so könnte man auch sagen - in sein bildnerisches Denken. Ich wähle diese Worte bewusst, denn Draheim ist kein Maler, dem sein Handwerk gleichgültig ist, der nicht darüber nachdächte, was und wie er es tut und was er damit erreichen möchte. Er hat die Malerei, so vermute ich, mit Bedacht gewählt, weil allein sie ihm die Möglichkeit eröffnet, das zu vermitteln, was ihm wesentlich scheint, was er an Einsichten vermitteln möchte, an Reflektionen, an Stimmungen, auch an Zweifeln und an Unsicherheit - und das immer auf sehr subjektive Weise, in einer offenen und vieldeutigen Form - zentral vermittelt durch die Farbe. Malerei als Existenzdeutung: ein großes Wort, aber ich denke diese Malerei hält ihr Stand.
Ein kurzer Rückblick auf die Biographie von Rudolf Draheim, der als Maler Autodidakt ist, zeigt verschlungene Wege und ein enges dialektisches Verhältnis von Hand und Kopf, Geist und Materie auf der Suche nach Beruf und Berufung. Draheim begann mit einer Zimmermannslehre, einem Metier, das im weitesten Sinne der Familie der Künste angehört. Nach dem Abendgymnasium wandte er sich dem Studium der Physik und Chemie zu, bevor er sich für mehrere Jahre den Religionswissenschaften am schon legendären Institut der Freien Universität unter Leitung von Klaus Heinrich widmete. Auch Germanistik und Theaterwissenschaften fanden sein Interesse. Anfang der 1980er Jahre war der Weg zur Malerei frei. Nach handwerklichen Anfangen, nach der Suche von Gesetzen in der Natur und von den Anfangen und Begründungen des Menschseins, nach der Beschäftigung mit Ausdrucksformen wie Sprache, Gebärde und Spiel führte der Weg von Draheim zur Farbe.
Farbe steht stellvertretend für Malerei. Das gilt allgemein, im Besonderen aber für das Werk von Rudolf Draheim. Dem zugute kommt die Entwicklung der modernen Kunst. Lange Zeit wurde sie mit Abstraktion gleichgesetzt, sicher eine verkürzte Sicht, doch eines ihrer Wesensmerkmale bleibt Abstraktion mit Sicherheit. Man könnte auch sagen: Emanzipation der Ausdrucksmittel. Farbe will nicht mehr bestimmte Gegenstände und ihr Verhältnis zueinander und im Raum bezeichnen, nicht mehr konkrete Personen, Situationen und Allegorien ein atmosphärisches Kolorit verleihen, sie wird gleichsam von irdischer Belastung befreit und kann auf der Malfläche ihr Eigenleben führen. Der Weg dorthin bestand in der allmählichen Loslösung von der abbildlichen Erfassung der Wirklichkeit.
Ein auch nur kursorischer Blick über die abstrakten Gemälde von Rudolf Draheim weckt - nach meinem Empfinden - immer wieder naturhafte Eindrücke, die auch solche kosmischer Natur einschließt. Sowohl im Werk des Künstlers, als auch in den Anfängen der ungegenständlichen Kunst bildete Natur häufig den Ausgangspunkt für das Abenteuer der Abstraktion. Man denke an Wassily Kandinsky ebenso wie an Piet Mondrian. Draheims Gemälde vom Anfang der achtziger Jahre stehen Kandinsky nahe, der aus dem Kreis des Blauen Reiter hervorging, auch der Malerei der Brücke-Künstler, deren Anfänge ja, wie man weiß, eng an Natur und Landschaft gebunden sind. Das war auch eine Rückkehr zu den Ursprüngen, eine Befreiung von den Verhärtungen und Verkrampfungen der Zivilisation.
Draheims Bilder der achtziger Jahre weisen meist einen flächigen Gebrauch der Farbe auf, dunkle, linienartig gesetzte Töne dienten bisweilen der Konturierung, landschaftliche Anspielungen tauchen auf. Später setzt eine Phase der Klärung ein. Reine Farbfelder treffen in dynamischer Abgrenzung kontrastierend aufeinander, monochrome Rechteckformen werden verschlungenen Farbbahnen gegenübergestellt. Im Vergleich zu den heutigen Werken erscheinen jene fast puristisch. Die Impuls gebende, vitalisierende Erneuerung wird für Draheim die Verwendung der Rakel oder des Spachtels, die den Pinsel als traditionelles Malwerkzeug weitgehend ablösen. Einen ersten Höhepunkt erreichte diese Phase in den Gemälden der Reihe „Berliner Elegie" von 1988-89. Zwei Beispiele daraus stehen hier zeitlich am Anfang, die große vierteilige Arbeit an der Stirnwand der Ausstellungshalle und das schmale Hochformat an der Eingangswand.
Man könnte gewillt sein, die Worte nah und fern des Ausstellungstitels nicht nur auf die innerbildliche Struktur anzuwenden, sondern auch auf die Entstehungszeit der Bilder zu beziehen. Einige Gemälde sind im neuen Jahrtausend entstanden, einige vor etwas über zehn Jahren, andere, wie die erwähnte „Elegie", in den Jahren der fast unblutigen Umwälzungen in den sozialistischen Ländern, der zum Ende der Ost-West-Spaltung führte. Fern liegt das, doch im Bild der „Berliner Elegie" ist es wieder ganz nahe -entstanden noch zu der Zeit, als die Mauer Berlin durchschnitt und die Gräben tief waren. Ein mächtiger grüner Farbstrom zieht diagonal wuchtig durch das Bild oder die Bildteile, lässt fast keinen Horizont erkennen, reißt alles mit sich. Farbfetzen in Schwarz, Rot, Gold, auch Blau, tauchen auf, kommen zum Vorschein, werden überdeckt, verschluckt, mitgerissen - all das bleibt offen. Quer ragen von unten einige balkenähnliche Elemente ins Bild, scheinen Halt zu geben, und doch weiß man nicht, ob sie im nächsten Moment nicht vom Sog des Hauptstroms mitgezogen werden.
Die Darstellung ist abstrakt und doch auf vertrackte Weise mit Inhalt voll gesogen, selbst wenn man den Titel nicht kennen würde. Die Bedeutung der Farben, gegenständlich oder symbolisch begründet, und die Art ihres bildnerischen Auftrags - und das durchaus im praktischen wie übertragenen Sinne gemeint - sind keineswegs kongruente oder in sich stimmige Vorgaben, ebenso wenig wie die Intensität der Farben, ihr Verhältnis zueinander, ihre Struktur, ihre Dichte und Intensität. In der Phantasie des Betrachters wechseln sich unterschiedliche Bilder miteinander ab, etwas das des Todesstreifens zwischen Ost- und Westmauer, in dem die so genannten Panzersperren signalhaft Akzente setzten, oder das eines reißenden Flusses - mit dem Wissen, dass die Spree tatsächlich teilweise als natürlich-unnatürliche Grenze diente -, in den Baumstämme hineinragen, Birken vermutlich ob ihrer fleckigen Rindenhaut. Das sind Augenblickseindrücke, starke und mächtige, widersprüchliche auch, denn Land und Wasser, wie verschieden sind sie doch, aber im Gemälde werden sie eins. Das Bild beschwört Blockade, dass einem das Blut stockt, Fühler ragen in die Farbraserei hinein, vermögen wenig, wirken hilflos und haltlos über einem Abgrund.
Wie die „Berliner Elegie" der Stirnwand stammen auch die drei Gemälde „Utopische Kommunikation" auf der einen, sowie das Triptychon „Zeit-Läufte" auf der anderen Seite aus dem ereignisreichen Jahr 1989. Auch sie sind abstrakte Kompositionen mit Zeitbezug, von diesem gleichsam imprägniert, ohne dass er in irgendwie gleich augenfällig wäre. Wird er aber durch Hinweise aus Titel und Datierung angedeutet, fließt er wie unbewusst in die Rezeption mit ein. Das Verwischen der Farbe durch die Rakel ermöglicht Laufrichtungen. Beide Bildgruppen weisen sich überkreuzende, im weitesten Sinne streifenartige Farbbahnen auf, solche die in breiter Spur meist horizontal oder leicht schräg durchs Bild laufen, und solche eher schmalen Bahnen, die gegenläufig in vertikaler oder diagonaler Richtung ziehen und bisweilen Kreuzformen ergeben. Farbströme in unterschiedlichen Richtungen bilden ein dichtes Geflecht, einen möglichen Kommunikationsund Resonanzraum aus widerstrebenden Kräften sich überstürzender Informationsströme. Sie treffen sich, gehen wieder auseinander, übergehen sich, laufen parallel zueinander, verlieren sich. Es herrscht Bewegung, aber keine wirklich bewegende Stimmung, eher diffuse Aufgeregtheit. Eine erwartungsvolle Haltung paart sich mit Gefühlen von Orientierungslosigkeit und Ausgeschlossensein.
Bevor ich auf die ein mehrere Jahre später einsetzenden weiteren Werkgruppen zu sprechen kommen, möchte ich noch ein paar Worte zur Rakel sagen, die für Draheim zum Hauptarbeitsinstrument geworden ist. Die Rakel ist ein Band aus Stahl, Metall oder Holz und kommt traditionell bei der Druckgraphik zur Anwendung, um Farbe abzustreifen oder - wie beim Siebdruck - durch das Sieb zu pressen. Die Rakel findet aber auch seit langem in der Malerei Verwendung, vor allem im Informel der Nachkriegszeit, etwa bei Karl Otto Götz als zum Bild gewordenen Zeichen von Tempo und körperlicher Aktion. Sie findet sich in systematischer eingesetzter Form wieder bei seinem Schüler Gerhard Richter, der seit Ende der siebziger Jahre eine Fülle solcher abstrakter Übungen vollzog im Sinne eines malerischen Diskurses und als endgültigen Schritt, mit dem die gegenständliche Realität gleichsam verwischend aufgehoben wird. Das Arbeiten mit der Rakel knüpft auch an surrealistische, halbautomatische etwa Abklatsch- oder Durchreibetechniken an, mit deren Hilfe sich Künstler den gesteuerten Zufall zunutze machen und in imaginäre Bildwelten vorstoßen.
Rudolf Draheim wird sich dieser Tradition bewusst sein, eröffnet ihnen aber neue Wege. Sie führen zu einer eigenen Farb-Bildwelt, die sich ganz real im Ausstellungsraum um uns herum aufbaut. Der elegante, leicht effekthascherische Gestus, der das Abschmieren der Farbe vor allem bei schneller Ausführung hervorbringen kann, liegt Draheim fern. Der Gestus als solcher, isoliert und als individualistische Künstlerspur, kommt bei ihm kaum vor. Vielmehr füllen die mit der Rakel geschaffenen Strukturen die Bilder bis zum Rand ganz aus, überlagern sich in einer kaum noch mit dem Auge fassbaren Dichte und Fülle. Außerdem verwendet Draheim beim Rakeln meist nicht nur eine einzige Farbe, setzt oft mehrere nebeneinander, so dass die sich ergebenden schrundigen Schlieren und Schleifspuren vielfarbig schillern. Durch Auf- und Abbewegen der Rakel entstehen parallele Kräusel- und Wellenspuren, durchs Überlagern unregelmäßige Muster, Flecken, Wolken, Schichtungen, ein Dickicht aus Formen und Strukturen. Die Farbe ist gleichsam der einzige Gegenstand der Bilder. Das mag paradox klingen, denn nichts ist gegenstandsloser als Farbe. Sie ist - wie ein Gemälde heißt - „Eine Frage des Lichts". Man könnte auch sagen: eine Laune des Lichts. Ohne es - das Licht -, gäbe es sie - die Farbe - nicht. Sie ist kein Ding, sondern eine Eigenschaft der Dinge, in ihrer Erscheinung und Wertigkeit abhängig von den jeweiligen Umständen ihrer Wahrnehmung. Es ist die Leistung des Malers, Farbe - konkret in Gestalt der Ölfarbe - nicht nur stofflich auftreten zu lassen, sondern ihr auch ganz eigene Ausdrucksmöglichkeiten zu verleihen, die sie gänzlich aus ihrer Gebundenheit als Lokalfarbe herauslösen.
Farbe belebt. Farbe ist Leben. Als farblos gilt, was keine Eigenschaften besitzt. Farbe wird der Natur zugeordnet, etwa die Primärfarben: Blau steht für Himmel, Gelb für Sonne, Rot für Blut oder Feuer. Ergänzend ist anzufügen, dass die Mischfarbe Grün für Natur schlechthin steht. Auch wenn wir wissen, dass die Wirklichkeit etwas anders aussieht, sind diese Farbzuordnungen eine kulturelle Konstante und besitzen vor allem symbolischen Wert. Wenn Draheim eine Reihe von Gemälden mit dem Titel „Geborgenheit der Farbe" benennt, so hängt dies sicherlich auch mit der naturhaften Deutung von Farben zusammen, über die er - der Künstler - so souverän zu verfügen mag. Er schafft damit „Parallelwelten" - auch das der Titel eines seiner Bildpaare -, die einen imaginären Rollenwechsel erlauben und den Betrachter zu visuellen Expeditionen einladen.
Noch einmal zurück zum Naturbezug. Ihm mag die kräftige, leuchtende, intensive Farbigkeit vieler Bilder widersprechen. Sind solche Farben nicht eher in unserer Warenwelt zuhause? Doch es ist der Umgang mit der Farbe, der die Parallelität zur Natur, zum Schöpferischen schlechthin herstellt. Farben sind in den Bildern nicht einfach nur da: sie vermischen sich, wirbeln, sausen, stürmen, zischen, flackern, fließen, quellen, lagern, sacken ab, blasen sich auf, wehen dahin. Sie besitzen energetische Qualitäten, scheinen den Elementen verbunden zu sein, ja scheinen Töne und Gerüche zu verströmen. Sie erzeugen Stimmungen, etwa die von „Nebelung'- - wie ein Gemälde heißt. Sie schaffen Atmosphäre. Heraklits berühmter Ausspruch: „Panta reic - alles ist im Fluss - ist Titel einer Bildreihe und beschreibt das zugrunde liegende Prinzip. Die Welt der Erscheinungen ist im ständigen Wandel. Der naturhafte Raum ist zugleich Metapher für Innenwelten mit ganz eigenen Raum-Zeit-Dimensionen. Draheims Bildwelten bilden Ausschnitte. Sie scheinen über den Rand, der durch keinen Rahmen begrenzt wird, hinauszudrängen. Mehrteilige Formen wie Diptychon, Triptychon oder Reihungen unterstreichen dies. Bilder haben keine Fensterfunktion, die den Blick des Betrachters aus dem realen Raum in einen gemalten hineinzieht und entführt. Eher umgekehrt wirken Draheims Bilder in den realen Raum hinein, laden ihn auf und färben ihn. Deutlich wird Draheims Intention durch die drei Periaktoi (Singular: Periaktos). Sie erinnern an die im griechischen Theater verwendeten Kulissen, die durch Drehen der jeweiligen Szene angepasst wurden. Draheims prismatisch im Raum aufgestellten schmalen Hochformate aus der Serie „Panta rei" machen so im Rückgriff auf die Antike ein bleibendes Anliegen der Kunst augenscheinlich: Menschen rühren, aufwühlen, beglücken, erregen, bewegen, erstaunen machen.
Michael Nungesser